Künstler des Monats: JOAN FONTCUBERTA
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Künstler des Monats: Joan Fontcuberta
Was Darwin übersehen hat
Mit der ironischen Präzision eines Wissenschaftlers und der Fantasie eines Fabeldichters wendet Joan Fontcuberta die Werkzeuge der Wahrheit gegen sich selbst. Seit Jahrzehnten ist der katalanische Künstler (geb. 1955 in Barcelona) einer der brillantesten Skeptiker der Fotografie – ein Chronist visueller Täuschungen, ein Philosoph des Bildes und, was vielleicht am reizvollsten ist, ein Schelm im Laboratorium der Realität.
In seiner neuesten Serie Was Darwin übersehen hat arbeitet Fontcuberta mit künstlicher Intelligenz zusammen, um ein ganzes Ökosystem fiktiver Korallen zu erschaffen – Organismen, die nur im Raum zwischen Glauben und Vision existieren. Auf den ersten Blick erinnern die Werke an die Ästhetik der wissenschaftlichen Fotografie: sorgfältig ausgeleuchtete Exemplare, lateinische Nomenklatur und die nüchterne Präzision der Naturgeschichte. Aber unter ihrer polierten Oberfläche verbirgt sich eine philosophische Provokation. Jede Koralle, von Madrepora regia bis Testa abyssalis, ist ein Paradoxon – ein Bild, das wie ein Beweis aussieht, aber wie Poesie atmet.
Das Projekt entstand in den Archiven der Alfred Ehrhardt Foundation in Berlin, wo Fontcuberta eine unvollendete Forschungsarbeit aus dem Jahr 1938 wiederentdeckte. Ehrhardt, sowohl Fotograf als auch Biologe, hatte Korallenstrukturen für das Hamburger Naturhistorische Museum dokumentiert – ein Projekt, das durch den Ausbruch des Krieges unterbrochen wurde. Fontcuberta lässt dieses historische Fragment nicht als Rekonstruktion, sondern als Neuinterpretation wiederauferstehen: eine KI-generierte Fortsetzung eines wissenschaftlichen Traums, der durch die Geschichte entgleist ist.
Das Ergebnis ist eine visuelle Taxonomie erfundener Lebewesen. Jede Cryptocnidaria – Fontcubertas eigene Gattung spekulativer Korallen – offenbart radikale Anpassungen, unmögliche Symmetrien und evolutionäre Sprünge, die Darwin erröten lassen würden. Diese Korallen stellen die Vorstellung einer langsamen, linearen Evolution in Frage; stattdessen entwerfen sie eine Welt, in der Umweltstress, Strahlung oder sogar Daten selbst die Transformation beschleunigen können.
Stilistisch oszilliert die Serie zwischen Neuer Sachlichkeit und Surrealismus, zwischen Ernst Haeckel und Hieronymus Bosch. Fontcuberta setzt Humor als Skalpell und Skepsis als Mikroskop ein. Seine Kreaturen sind zwar erstaunlich lebensecht, entstehen jedoch aus Algorithmen – einem Ökosystem aus Pixeln, das unser kollektives Verlangen nach Sehen und Glauben widerspiegelt.
Und doch verbirgt sich hinter der Ironie etwas zutiefst Zärtliches: die Erkenntnis, dass Bilder, egal wie künstlich sie auch sein mögen, die Art und Weise sind, wie wir die Existenz verstehen. In „What Darwin Missed“ erschafft Fontcuberta nicht einfach neue Arten – er lässt das Staunen selbst wieder aufleben.
Die Werke, präsentiert als großformatige Giclée-Drucke auf Hahnemühle Museum Fine Art Papier, sind in einer limitierten Auflage von fünf Exemplaren (60 × 50 cm und 50 x 40 cm, 2024) erhältlich. Jeder Druck lädt Betrachter und Sammler gleichermaßen in einen seltsamen neuen Ozean ein – einen, der nicht in der Natur existiert, sondern in der Vorstellungskraft der Maschine und im Geist eines Künstlers, der nie aufhört zu fragen: Was wäre, wenn?
Fontcubertas Welt ist eine Welt, in der die Fotografie aufhört zu dokumentieren und anfängt zu träumen.
Und vielleicht ist es genau das, was Darwin übersehen hat.